Nachfolgend ein Beitrag vom 28.2.2019 von Oldenburger, jurisPR-MedizinR 2/2019 Anm. 1

Orientierungssatz zur Anmerkung

Subjektiv erforderliche Leistungen zur Krankheitsbehandlung begründen, solange sie nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen, für Versicherte bei nicht fristgerechter Entscheidung der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der Genehmigungsfiktion i.S.v. § 13 Abs. 3a SGB V nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch nach Selbstbeschaffung der Leistung, sondern alternativ auch einen Naturalleistungsanspruch.

A. Problemstellung

Der 1. Senat des BSG hatte sich erneut mit der Frage einer Genehmigungsfiktion von beantragten Leistungen zur Krankheitsbehandlung einer Versicherten i.S.v. § 13 Abs. 3a SGB V zu befassen. Nachdem der Senat bereits mit Urteil vom 11.09.2018 (B 1 KR 1/18 R, mit Anm. Plagemann, jurisPR-SozR 24/2018 Anm. 1, und Oldenburger, jurisPR-MedizinR 10/2018 Anm. 1) ausführlich zur Frage der Fristberechnung Stellung bezogen und klargestellt hat, dass eine nach Fristablauf und damit eingetretener fingierter Genehmigung selbst eingeholte Krankenbehandlung (auch im Ausland) erstattungspflichtig ist, musste der Senat in dieser zeitlich danach veröffentlichten Entscheidung vom 06.11.2018 die Frage beantworten, ob die Genehmigungsfiktion auch Naturalleistungsansprüche beinhaltet. In welchem Verhältnis stehen also die beiden Ansprüche – Naturalleistungs- und Kostenerstattungsbegehren – im Rahmen einer fiktiven Genehmigung gemäß § 13 Abs. 3a SGB V?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Befundgestützt beantragte die Klägerin bei ihrer gesetzlichen Krankenversicherung die Versorgung mit einer Hautstraffungsoperation nebst vorheriger Liposuktion. Innerhalb der Fünf-Wochen-Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V nach Einschaltung des MDK traf die beklagte Krankenkasse keine Entscheidung. Sie bewilligte erst nach Fristablauf eine gewebereduzierende Operation ohne Liposuktion und lehnte weitere beantragte Versorgungen ab.
Nachdem das Sozialgericht die Beklagte verpflichtet hatte, gemäß dem Antrag der Klägerin die Leistungen zu gewähren, wies das Landessozialgericht die Klage insgesamt ab: Zum einen liege keine behandlungsbedürftige Krankheit vor, zum anderen seien die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V nicht erfüllt. Hautstraffungen einschließlich Eigenfettbehandlungen seien grundsätzlich nicht Gegenstand des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV).
Das BSG hat die Berufungsentscheidung aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin antragsgemäß zu versorgen.
Beide vom Landessozialgericht abgelehnten Voraussetzungen lägen vor. Die beantragten Leistungen seien hinreichend bestimmt gewesen, sie lagen auch nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der gKV. Für die Klägerin seien die beantragten Leistungen auch subjektiv erforderlich gewesen. Dabei sei die Besonderheit von § 13 Abs. 3a SGB V zu beachten. Es handele sich dabei um eine Sanktionsnorm. Das führe dazu, dass selbst dann, wenn auf die beantragte Leistung objektiv kein materiell-rechtlicher Anspruch bestehe, eine Leistungspflicht gleichwohl aufgrund der Genehmigungsfiktion als erforderlich feststehe. Auf die Frage einer objektiven Genehmigungsfähigkeit komme es dabei nicht an, es seien lediglich die subjektive Komponente der von der Antragstellerin für erforderlich gehaltenen Leistungen auf der einen und nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der gKV liegende Leistungen auf der anderen Seite maßgeblich. Genehmigungsfähig im Sinne einer solchen Fiktion seien deshalb auch solche Leistungen, auf die ohne Eintritt der Genehmigungsfiktion kein Anspruch bestehen würde.
Erfolgt die Entscheidung der gKV nicht innerhalb der maßgeblichen Fünf-Wochen-Frist (nach Einschaltung des MDK), liege ein einem Leistungsbescheid gleichkommender Verwaltungsakt vor. Dieser gebiete gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V einen Naturalleistungsanspruch. Neben diesem könne zudem die Leistung selbst beschafft werden – mit entsprechendem Kostenerstattungsanspruch (§ 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V).
Es sei der gKV von daher nicht ohne weiteres möglich, diese fiktive Genehmigung nachträglich zu korrigieren. Dazu sei auf die allgemeinen Grundsätze über die Erledigung, den Widerruf und die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes abzustellen. Insoweit seien indes die bereits entwickelten Grundsätze bei Kostenerstattungsbegehren jenen bei Naturalleistungsbegehren gleichzusetzen. Eine unterschiedliche Behandlung widerspräche der Gesetzeskonzeption und dem Sanktionscharakter der Regelung, wonach das Interesse aller Versicherten an einem beschleunigten Verwaltungsverfahren geschützt sei. Und diesbezüglich habe die beklagte Krankenversicherung mit einer nach Fristablauf übermittelten Ablehnung der Leistung weder ausdrücklich noch sinngemäß, weder förmlich noch inhaltlich eine Rücknahme, eine Aufhebung oder einen Widerruf der Genehmigung geregelt. Insbesondere habe das Landessozialgericht auch keinerlei geänderte Umstände festgestellt, die die Genehmigung durch Eintritt eines erledigenden Ereignisses entfallen lassen könnten.

C. Kontext der Entscheidung

Das BSG wendet die für Kostenerstattungsansprüche entwickelten Voraussetzungen nunmehr auch auf Naturalleistungsansprüche i.S.v. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V an. Naturalleistungsansprüche unterfallen folglich ebenfalls der Genehmigungsfiktion von § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V. Diese Genehmigungsfiktion steht einem Leistungsbescheid gleich. Die Versicherten haben insoweit nach Auffassung des BSG einen Anspruch auf diese Leistungen, ohne dass sie sich diese in wirtschaftlicher Hinsicht zunächst selbst beschaffen und danach Kostenerstattung verlangen müssten. Durch die Fiktion des Fristablaufs, bis zu welchem keine Entscheidung der Krankenversicherung zugegangen ist, ist das Verwaltungsverfahren beendet, und dem Versicherten steht unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zu (vgl. insoweit auch BSGE 123, 293).
Darüber hinaus erklärt das BSG einer objektiven Betrachtung der Genehmigungsfiktion eine Absage. Sollte aus Sicht des/der Versicherten eine Leistung, die beantragt ist, erforderlich sein, was beispielsweise durch eine fachärztliche Bestätigung begründet werden kann, ist allein dieser Umstand für die Genehmigungsfiktion maßgeblich, aber auch ausreichend. Nur dann, wenn der Antrag rechtsmissbräuchlich wäre, also die Leistungsgrenzen des gKV-Leistungskataloges überschritten seien, könne eine einschränkende Bewertung vorgenommen werden. Das führt dazu, dass eine nicht fristgerechte Entscheidung nicht mehr ohne nähere weitere Gründe abgeändert werden kann. Der Schutz der Versicherten gebiete es, so das BSG, nur dann von einer Genehmigung abzuweichen, wenn nachträglich geänderte Umstände festgestellt würden, die einem erledigenden Ereignis entgegengehalten werden können.

D. Auswirkungen für die Praxis

Versicherte können bei subjektiv plausibel dargelegten Kostenübernahmeanträgen einen unmittelbaren Naturalleistungsanspruch gegenüber ihrer gKV durchsetzen. Mit diesem können sie dann Krankenhausleistungen in Anspruch nehmen, die dann wiederum gegenüber der gKV abgerechnet werden müssten. Auf welche Art und Weise dieser Anspruch bei der Aufnahme gegenüber der Klinik nachgewiesen werden muss und kann, ist indes unklar. Es dürfte durchaus naheliegen, dass die Krankenhäuser vielmehr auch weiterhin einen privaten Behandlungsvertrag verlangen, solange keine positive Kostenübernahmeerklärung der gKV vorliegt. Versicherte müssten also mittels allgemeiner Leistungsklage die Voraussetzungen der Krankheitsbehandlung sozialgerichtlich feststellen lassen. Neben Ausführungen zur nicht eingehaltenen Frist sind dazu Gründe für eine individuell für erforderlich gehaltene Krankenbehandlung anzugeben. Die Versicherten haben dann, neben dem Leistungsanspruch auf Behandlung, das Wahlrecht, sich die Leistung ohne Inanspruchnahme des Naturalleistungsanspruchs selbst zu beschaffen und nachträglich Kostenerstattung zu verlangen. Sie müssen sich allerdings nicht auf eine solche Kostenerstattung beschränken, was bei nicht ausreichend potenten Versicherten die Leistungsbeschaffung erleichtern dürfte.
Die Krankenversicherung ist von daher gehalten, die Fristen konkret zu überwachen und einzuhalten. Erneut weist das BSG darauf hin, dass Fristverlängerungen nur aufgrund von nachvollziehbaren konkreten Gründen begründet sein können. Diese Fristverlängerungen müssen dann zeitlich exakt bestimmt werden. Anderenfalls führt ein nicht ausreichend begründeter Verlängerungswunsch nach gesetzlichem Fristablauf zur Genehmigungsfiktion. Das wirtschaftliche Risiko für die Krankenversicherung steigt damit. Dies gilt umso mehr, als auch bei einer Fiktion im Hinblick auf einen Naturalleistungsanspruch nur unter erschwerten Bedingungen eine nachträgliche Korrektur erfolgen kann. Die Fristeinhaltung unter Einschluss der Qualitätsanforderungen für Verlängerungswünsche stellt hohe Anforderungen an die Bearbeitung von eingehenden Kostenübernahmeanträgen. Auch die (vom Gesetzgeber bezweckte) Kooperation mit dem MDK muss sich weiter verbessern, damit keine wirtschaftlichen Schäden entstehen, die schlussendlich doch wieder zulasten der Versichertengemeinschaft gehen. Die immer wieder zu beobachtenden Verzögerungen in der Antragsbearbeitung dürften durch die neueren Entscheidungen des BSG verbessert werden. Inwieweit aber durch frühzeitige (fristgerechte) ablehnende Entscheidungen und damit Flucht ins Widerspruchsverfahren das Leistungsproblem aus Sicht der gKV gelöst werden kann, ist noch nicht geklärt. Derzeit wird man davon ausgehen müssen, dass damit einer Genehmigungsfiktion wohl ein Riegel vorgeschoben werden kann, obschon Stimmen in der Literatur die Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V in Fällen eines offensichtlichen Umgehungsmanövers gleichwohl anzuwenden empfehlen.

Naturalleistungsanspruch aufgrund Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V
Birgit OehlmannRechtsanwältin

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