Nachfolgend ein Beitrag vom 20.3.2019 von Nugel, jurisPR-VerkR 6/2019 Anm. 1

Leitsatz

„Anderer Verkehrsteilnehmer“ im Sinne der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls auch derjenige, der auf der anderen Straßenseite vom Fahrbahnrand anfährt.

A. Problemstellung

Der BGH hatte über die Bildung der Haftungsquote bei einer Kollision zu entscheiden, bei welcher beide Verkehrsteilnehmer vom ruhenden in den fließenden Verkehr eingefahren sind, aber eine Seite für sich in Anspruch nimmt, schon gestanden zu haben.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin parkte mit ihrem Kfz rückwärts aus einer Parktasche in den fließenden Verkehr aus und fuhr dabei auf die Gegenfahrbahn, um von dort aus sodann geradeaus weiter zu fahren. Dort parkte auch der Beklagte zu 2 aus, der hierfür gut 10 m rückwärts entgegen der dortigen Fahrtrichtung fuhr und in Fahrt mit dem schon stehenden Fahrzeug der Klägerin kollidierte. Diese hätte aber auch den Einstieg des Beklagten zu 2 in sein Fahrzeug ebenso wie die Tatsache erkennen können, dass dieser in dieser Situation nur durch ein Zurücksetzen über eine längere Fahrstrecke ausparken konnte – was er erkennbar auch beabsichtigt hatte.
Die Tatrichter in beiden Instanzen gelangten zur einer Haftungsquote von 50% unter Anwendung der Grundsätze der §§ 9 Abs. 5 StVO, 10 StVO und diese Bewertung wurde vom BGH bestätigt. Dieser hat insbesondere klargestellt, dass entgegen einer Ansicht in Literatur und Rechtsprechung die zentrale Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO ebenso wie die des § 10 StVO nicht nur einen eingeschränkten Schutzzweck haben würde, von dem nur der fließende Verkehr erfasst werden würde. Denn der Wortlaut dieser Vorschrift ist darauf gerichtet, dass die Gefährdung aller anderen Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen wird und darunter würden ebenso Fußgänger und auch andere Fahrzeugführer fallen, welche gerade vom ruhenden in den fließenden Verkehr ausparken würden.
Eine Haftung der Klägerin wegen eines Verstoßes gegen diese Vorschriften bzw. der damit verbundenen hohen Betriebsgefahr ihres Kfz bei ihrem Fahrmanöver würde auch nicht dadurch entfallen, dass es ihr gelungen sei, ihr Fahrzeug vor der Kollision zum Stillstand zu bringen. Insoweit sei dieser Sachverhalt von einem Unfall allein im Bereich des ruhenden Verkehrs eines Parkplatzes zu unterscheiden und bei der hier vorliegenden Konstellation einer von der Klägerin ebenfalls durchgeführten Rückwärtsfahrt über zwei Fahrbahnen sei gerade kein typischer Sachverhalt gegeben, welcher eine alleinige Haftung des Beklagten zu 2 begründen könne.
Hilfsweise weist der BGH wie auch schon die Vorinstanzen darauf hin, dass dieses Ergebnis auch eintreten würde, wenn mit der abweichenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung die Vorschriften der §§ 9 Abs. 5, 10 StVO nicht angewendet würden. Denn dann hätten beide Fahrzeugführer zumindest gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Die Bildung der aus diesen Verstößen resultierenden Haftungsquote wäre dann allein Sache des Tatrichters und durch den BGH revisionsrechtlich nicht überprüfbar.

C. Kontext der Entscheidung

Der BGH stellt mit dieser Entscheidung klar, dass die bedeutsamen Vorschriften der §§ 9 Abs. 5, 10 StVO, nach denen die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist, dem Schutz aller Verkehrsteilnehmer dienen und schließt sich damit gerade nicht einer in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansicht an, welche den Schutzweck auf den fließenden Verkehr beschränken möchte (vgl. beispielhaft LG Hamburg, Urt. v. 17.11.2017 – 306 S 1/17; LG Saarbrücken, Urt. v. 10.12.2010 – 13 S 80/10; Burmann in: Burmann/Hess/Hühnermann/Janke, Straßenverkehrsrecht § 10 StVO Rn.2). Insoweit sind diese zentralen Vorschriften der StVO beispielsweise von dem Rechtsfahrgebot des § 2 StVO zu unterscheiden, bei dem der BGH einen solch eingeschränkten Schutzzweck bereits bejaht hat (BGH, Urt. v. 20.09.2011 – VI ZR 282/10 – ZfSch 2012, 76; OLG Hamm, Urt. v. 23.02.2016 – I 9 U 43/15 – ZfSch 2017, 16; OLG Stuttgart; Urt. v. 04.06.2014 – 3 U 15/14 – Schaden-Praxis 2014, 404).
Es bleibt abzuwarten, wie sich nunmehr die Rechtsprechung zu dem Schutzweck anderer Vorschriften – wie beispielsweise § 7 Abs. 5 StVO – entwickeln wird, welche auch den Ausschluss einer Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer fordern. Diese Normen könnten nach der Argumentation des BGH nunmehr wohl auch jeden Verkehrsteilnehmer vom Schutzzweck her erfassen. Bisher wurde dies kritisch gesehen: § 7 Abs. 5 StVO schützt nach einer bisher häufig vertretenen Ansicht lediglich den fließenden Verkehr, nicht jedoch den vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer bzw. denjenigen, der aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr einfährt (anschaulich: KG, Beschl. v. 29.10.2007 – 12 U 5/07 – KGR Berlin 2008, 855; KG, Beschl. v. 04.01.2006 – 12 U 202/05 – NZV 2006, 369-371 und KG, Urt. v. 11.03.2004 – 12 U 285/02; LG Düsseldorf, Urt. v. 09.03.2001 – 20 S 61/00 – Schaden-Praxis 2001, 227; AG Essen, Urt. v. 14.01.2015 – 17 C 210/14; vgl. auch OLG München, Urt. v. 17.12.2010 – 10 U 2926/10; im Überblick hierzu auch Nugel, NJW 2013, 193 ff.).

D. Auswirkungen für die Praxis

Ebenso wichtig für die Praxis ist auch die Klarstellung des BGH, dass die bisher für die Unfälle im Parkplatzbereich fortentwickelte Rechtsprechung sich überzeugenderweise nicht auf Unfälle im fließenden Verkehr übertragen lässt. Für die Unfälle im Parkplatzbereich hatte der BGH noch hervorgehoben, dass der Fahrzeugführer, dem es gelingt, seinen PKW vor der Kollision zum Stillstand zu bringen, nicht gegen die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO in analoger Anwendung verstößt und i.d.R. nur eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr in Betracht kommt (BGH, Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15 – MDR 2016, 268; BGH, Urt. v. 26.01.2016 – VI ZR 179/15 – NJW-Spezial 2016, 138). Diese Grundsätze lassen sich aber nicht uneingeschränkt auf den fließenden Verkehr übertragen, bei dem es für die Haftungsabwägung nicht von Bedeutung sein kann, wem es ggf. gerade zufällig gelingt, sein Kfz noch unmittelbar vor der Kollision abzubremsen. Vielmehr bietet es sich für diese Unfallabläufe auch weiterhin an, die strengend Sorgfaltsanforderungen der §§ 9 Abs. 5, 10 StVO solange anzuwenden, wie eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht ausgeschlossen ist.
In diesen Fälle greift der Anscheinsbeweis mithin zulasten des vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahrenden Fahrzeugführers auch dann ein, wenn dieser zum Kollisionszeitpunkt bereits zum Stehen gekommen, gleichwohl aber ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit seiner Fahrbewegung gegeben ist, da der Einfahrende jede Gefährdung des fließenden Verkehrs bis zu dem Zeitpunkt auszuschließen hat, zu dem er sich vollständig in den fließenden Verkehr mit der dort herrschenden Geschwindigkeit eingegliedert hat (OLG Köln, Urt. v. 19.07.2005 – 4 U 35/04 – DAR 2006, 27; KG, Beschl. v. 29.10.2007 – 12 U 5/07 – KGR Berlin 2008, 855 sowie KG, Beschl. v. 27.11.2006 – 12 U 181/06 – NZV 2007, 359).

Schutzzweck und Anscheinsbeweis bei einer gleichzeitigen Rückwärtsfahrt in den fließenden Verkehr
Danuta EisenhardtRechtsanwältin
  • Fachanwältin für Familienrecht
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Andrea KahleRechtsanwältin
  • Fachanwältin für Verkehrsrecht

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