Nachfolgend ein Beitrag vom 12.12.2018 von Lang, jurisPR-VerkR 25/2018 Anm. 1
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Ein Kfz.-Führer hat gegenüber einem Kind, das die Straße erkennbar überqueren möchte, eine erhöhte Sorgfaltspflicht.
2. Ein die Straße bei „roter“ Ampelstellung querendes 10,5-jähriges Kind haftet gegenüber einem zu spät reagierenden Kfz.-Fahrer mit einer Quote von 1/3 mit.
3. Die kurz nach Überschreiten der Haftungsgrenze des § 828 Abs. 2 BGB bestehenden kindlichen Defizite sind in die Haftungsbeurteilung einzubeziehen.
4. Bei der Einsichtsfähigkeit nach § 828 Abs. 3 BGB kommt es auf das jeweilige Kind an, ein pauschaler Hinweis auf Defizite dieser Altersgruppe reicht nicht aus.
A. Problemstellung
Bereits ein Blick in die Tagespresse belegt die Häufigkeit der Straßenverkehrsunfälle, in denen ein Fußgänger bei einer Kollision mit einem Kraftfahrzeug oft schwer geschädigt wird. Laut statistischem Bundesamt gab es im Jahre 2017 in Deutschland 33.228 Unfälle mit einer Beteiligung von Fußgängern, was gegenüber dem Vorjahr einen Rückgang von 2,4% bedeutet (Stat. Bundesamt, Verkehrsunfälle 2017, www.destatis.de). Dabei wurden jeweils 1,4% weniger Fußgänger getötet bzw. verletzt. Positiv ist vor allem die langfristige Entwicklung, so im Vergleich zu 1991 mit einem Rückgang der Getöteten um 34%, der Verletzten sogar um 74,8% (Stat. Bundesamt, Verkehrsunfälle 2017, www.destatis.de).
Eines der traurigsten Kapitel des Verkehrsalltags sind Unfälle, bei denen Kinder zu Schaden kommen. So sind im Jahre 2017 erneut 29.259 Kinder unter 15 Jahren bei Straßenverkehrsunfällen verunglückt, 22,3% waren dabei zu Fuß unterwegs. Der langfristige Trend ist auch insoweit positiv. So kamen dabei z.B. 2017 noch 19 kindliche Fußgänger ums Leben, im Jahre 1978 waren es mit 701 Kinder noch rund 37-mal so viele (Stat. Bundesamt, Kinderunfälle im Straßenverkehr 2017, destatis.de).
Ein zentraler Diskussionspunkt nach Unfällen mit Fußgängerbeteiligung – speziell auch unter Beteiligung von Kindern – ist die Haftungsfrage (Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2). Dazu gibt es, gerade auch in jüngster Zeit, eine Vielzahl obergerichtlicher Entscheidungen, so hier wieder des OLG Düsseldorf.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Bei einem Straßenverkehrsunfall vom 02.12.2005 wurde die ca. 10,5 Jahre alte Klägerin als Fußgängerin bei der Kollision mit einem bei dem Beklagten versicherten PKW lebensgefährlich verletzt. Auf dem Heimweg von der Schule wollte das Mädchen eine ca. 500 Meter vom Elternhaus entfernte, beampelte Kreuzung überqueren. Nachdem es den Druckknopf an der Fußgängerampel gedrückt hatte, kollidierte es mit dem von links mit zulässigen 60 km/h kommenden PKW, wobei es trotz Vollbremsung des Autos 18 Meter durch die Luft geschleudert wurde. Streitig ist, ob die Klägerin die Ampel bei „grün“ oder bei „rot“ überquert hat.
Das LG Düsseldorf hatte der Klage am 11.09.2015 (6 O 341/06) zu 40% stattgegeben. Das OLG Düsseldorf hat mit folgender Begründung eine 2/3-Haftung des PKW angenommen:
1. Der PKW-Fahrer habe den Unfall verschuldet, da er nach Aussage des Sachverständigen deutlich verspätet reagiert habe. Zwar sei nach der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass das Kind die Fußgängerampel bei „rot“ überquert habe, er also vorfahrtberechtigt gewesen sei. Auch sei ihm kein Geschwindigkeitsverstoß nachweisbar. Er habe jedoch die sich aus § 3 Abs. 2a StVO gegenüber kindlichen Unfallgegnern ergebenden erhöhten Sorgfaltspflichten verletzt. Bei 10-jährigen Kindern könne zwar grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sie die wichtigsten Verkehrsregeln kennen und beachten, so dass sich der Fahrer nur bei besonderen Umständen auf ein verkehrswidriges Verhalten des Kindes einstellen müsse. Das sei insbesondere der Fall, wenn dieses sich schon verkehrswidrig verhalte oder wenn es offensichtlich abgelenkt sei (OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.08.2013 – 1 U 68/12).
Eine solche Situation der erhöhten Sorgfaltspflicht sei vorliegend gegeben gewesen. Das Mädchen hätte durch die Betätigung der Anforderungstaste an der Ampel zwar zunächst den Eindruck eines regelgerechten Verhaltens erweckt. Dieses Vertrauen sei allerdings spätestens mit dem Betreten der Straße erschüttert worden. Der Fahrzeugführer hätte deswegen in der konkreten Situation früher mit einer Bremsung reagieren müssen, nicht also erst als das Mädchen bereits 1,50 Meter auf der Straße zurückgelegt hatte. Durch seine verspätete Reaktion habe er sich schuldhaft verhalten. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Ursache dafür tatsächlich – wie von der Klägerseite vorgetragen – in einer Ablenkung durch die Benutzung des Handys bestanden habe.
2. Das klagende Mädchen habe den Unfall allerdings erheblich mitverschuldet, indem es die Fußgängerampel nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei „rot“ überquert habe, was einen Verstoß gegen § 37 StVO darstelle. Das sei nicht durch den Klägervortrag ausgeschlossen, Kindern dieser Altersgruppe fehle regelmäßig die für eine Haftung erforderliche Einsicht i.S.d. § 828 Abs. 3 BGB. Eine solch pauschale Argumentation sei zu allgemein, mithin zu wenig auf den konkreten Fall und das jeweilige Kind bezogen. Unstreitig komme es nämlich bei dieser Frage auf dessen individuellen Entwicklungsstand an. Zwar gebe es 10-jährige Kinder, für die diese Aussage zutreffe, daraus könne aber nicht generalisierend gefolgert werden, dass das bei allen Kindern, also vorliegend auch bei der Klägerin in der konkreten Situation gelte. Das insbesondere, da sie bereits die 5. Klasse einer Realschule besuchte und den Heimweg von der Schule gut gekannt habe. Ihre Eltern hätten ihr die wesentlichen Verkehrsregeln erklärt, sie habe im Freundeskreis als eine umsichtige Verkehrsteilnehmerin gegolten, die sogar Kinder anhalte, im Straßenverkehr aufzupassen. Auf Basis des unsubstantiierten Vortrags der Klägerseite sei auch kein Sachverständigengutachten zu der Einsichtsfähigkeit des Mädchens einzuholen gewesen.
3. Bei Abwägung der Verursachungsbeiträge der Beteiligten ergebe sich eine überwiegende Haftung des PKW-Fahrers von 2/3. Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs sei aufgrund seiner Unaufmerksamkeit deutlich erhöht gewesen. Der Verkehrsverstoß des Mädchens sei allerdings ebenfalls erheblich, sodass es eine Mithaftung von 1/3 treffe. Die Beachtung von Ampelanlagen gehöre zu den grundlegendsten Verkehrsvorschriften, deren Beherrschung von einem ca. 10-jährigen Kind erwartet werden könne (OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.08.2013 – 1 U 68/12; OLG Saarbrücken, Urt. v. 24.04.2012 – 4 U 131/11 – NZV 2012, 483). Hinsichtlich des Mitverschuldens eines Kindes dieses Alters seien umgekehrt dessen immer noch vorhandenen kindlichen Defizite zu berücksichtigen, die im Jahre 2002 zur Anhebung der Haftungsgrenze in § 828 Abs. 2 BGB geführt hätten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.08.2013 – 1 U 68/12; OLG Saarbrücken, Urt. v. 24.04.2012 – 4 U 131/11 – NZV 2012, 483).
C. Kontext der Entscheidung
Das Urteil des OLG Düsseldorf überzeugt vom Ergebnis und der ausführlich vorgenommenen Würdigung der Beweisaufnahme. Lesenswert ist insoweit die sorgsame und zutreffende Begründung, wonach die Ampel nach den Zeugenaussagen und den Gutachten der Sachverständigen für das Mädchen zum Unfallzeitpunkt „rot“ zeigte.
Das Kind hat die Fahrbahn unter Missachtung des Rotlichts überquert, was einen massiven Verkehrsverstoß und damit zu Recht eine Mithaftung bedeutet. Bei der Gewichtung ist allerdings – wie vom Oberlandesgericht erfolgt – mit zu berücksichtigen, dass es mit zehn Jahren gerade erst die Altersgrenze überschritten hat, ab der nach § 828 Abs. 2 BGB eine Haftung im motorisierten Straßenverkehr möglich ist. Auch wenn in dem Alter vom Grundsatz her die Befolgung der elementarsten Regeln des Straßenverkehrs wie einer Ampelschaltung erwartet werden kann, ist aber gleichwohl zu berücksichtigen, dass immer noch gewisse kindliche Eigenheiten bestehen, die sich nicht „per Knopfdruck“ mit Erreichen der Haftungsgrenze erledigen. Vor dem Hintergrund ist die ausgeurteilte Höhe der Mithaftung des Kindes trotz seines erheblichen Verkehrsverstoßes aus meiner Sicht angemessen.
Der unfallbeteiligte PKW-Fahrer hat ebenfalls massiv gegen die Verkehrsregeln verstoßen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat er erst deutlich verspätet reagiert, als das Kind schon 1,5 Meter auf der Straße zurückgelegt hatte. Dem kommt besonderes Gewicht zu, da § 3 Abs. 1 StVO den Kraftfahrzeugführern u.a. bei Kindern, wie hier, wegen des besonderen Gefährdungsgrades erhöhte Sorgfaltspflichten auferlegt. Vorliegend hatte das Mädchen zwar zunächst den Eindruck erweckt, sich verkehrsgerecht zu verhalten, spätestens mit dem Betreten der Straße hätte der PKW-Fahrer mit einer Bremsung des Fahrzeugs reagieren müssen. Zwar hat das Oberlandesgericht vorliegend offenlassen können, was dafür die Gründe waren, einiges spricht aber dafür, dass der Fahrer – wie von der Klägerseite vorgetragen – gerade durch die Benutzung seines Handys abgelenkt war.
Anmerken möchte ich in dem Zusammenhang, dass zwischenzeitlich die Ablenkung durch die Smartphones und Navigationssysteme – noch vor dem Alkohol – die Ursache für die meisten (schweren) Straßenverkehrsunfälle ist. Das Lesen von Textnachrichten, das Tätigen von Anrufen auf dem Handy und das (Neu-)Programmieren von Navigationsgeräten hat nach einer Studie des Allianz-Zentrums für Technik (AZT) aus 2016 zuletzt deutlich zugenommen, ist weitverbreitet und hat oft fatale Folgen. Erschreckend ist, dass von 1.600 befragten Autofahrern jeder zweite zugab, sein Handy auch während der Fahrt ohne Freisprechanlage zu nutzen. Drei Viertel geben zudem an, durch im Auto verbaute Bedientechniken, wie Klimaanlagen, Navigationsgeräte oder Assistenzsystemen abgelenkt zu werden (https://www.allianzdeutschland.de/wp-content/uploads/2018/10/allianz-ablenkungsstudie-2016.pdf, zuletzt abgerufen am 05.12.2018; tz München v. 30.11.2016 – https://www.tz.de/auto/verkehrsstudie-handys-sind-unfallursache-nummer-eins-vor-alkohol-7031501.html, zuletzt abgerufen am 05.12.2018).
Die (zutreffende) Beurteilung der Haftung durch das Oberlandesgericht beruht maßgeblich auf einer umfassenden Beweisaufnahme, nach der i.S.d. § 286 ZPO feststand, dass das Mädchen die Ampel bei „rot“ überquert hat. Eine andere Beurteilung wäre sicher erfolgt, wenn die Ampel für das Mädchen „grün“ gezeigt hätte. Dann bejaht die obergerichtliche Rechtsprechung ein Vorfahrtsrecht des Fußgängers, den dann grundsätzlich keine (Mit-)Haftung trifft (so z.B. OLG München, Urt. v. 12.01.2018 – 10 U 1616/17 – NJW 2018, 1327; OLG München, Urt. v. 30.06.2017 – 10 U 4244/16). Wenn sich der Fußgänger dabei allerdings selbst nicht korrekt verhalten hat, trifft ihn eine anteilige Mithaftung (OLG München, Urt. v. 16.09.2016 – 10 U 750/13: 25% bei für ihn erkennbarem – zu schnellem – PKW; OLG Frankfurt, Beschl. v. 09.05.2017 – 4 U 233/16: 10% bei Querung der Straße etwas abseits vom „Zebrastreifen“ und in falscher Richtung fahrendem Radfahrer).
Bezüglich von Fußgängerunfällen knüpft die OLG-Entscheidung an die „Leitplanken“ des BGH an (Zuletzt BGH, Urt. v. 24.09.2013 – VI ZR 255/12 – VersR 2014, 80; BGH, Beschl. v. 19.08.2014 – VI ZR 308/13 – VersR 2014, 1480). Demnach tritt Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs nur bei grob verkehrswidrigem Verhalten des die Straße unachtsam querenden Fußgängers hinter dessen Verschulden zurück (Vgl. auch BGH, Urt. v. 28.04.2015 – VI ZR 206/14 – VersR 2015, 767).
Die Oberlandesgerichte orientieren sich – wie dieses Urteil – eng an diesen Vorgaben des BGH. Bei unachtsamen Überquerungen der Straße abseits einer Ampel bzw. eines „Zebrastreifens“ differenzieren sie durchweg sachgerecht zwischen den einzelnen, oftmals nur geringfügig, aber nicht unwesentlich divergierenden Sachverhalten. So wird in der Regel die volle Haftung des Fußgängers bejaht, wenn er die Straße für den ordnungsgemäß fahrenden Autofahrer plötzlich „von rechts“ betritt (z.B. OLG Jena, Urt. v. 15.06.2017 – 1 U 540/16 – NJW 2018, 77; OLG München, Urt. v. 10.11.2017 – 10 U 491/17; OLG Dresden, Urt. v. 09.05.2017 – 4 U 1596/16; OLG Köln, Urt. v. 10.02.2017 – 19 U 102/16; OLG Stuttgart, Urt. v. 04.04.2017 – 12 U 193/16). Betritt der Fußgänger die Fahrbahn aus Sicht des Autofahrers hingegen „von links“ oder hat er die Straße schon teilweise überquert, nehmen die Obergerichte oft dessen Mithaftung i.H.v. 1/3 an, da er den Fußgänger zumeist schon früher erkennen kann (OLG Hamm, Urt. v. 06.04.2017 – 6 U 2/16; OLG Frankfurt, Urt. v. 04.03.2014 – 4 U 246/13).
Die Haftung des Kfz.-Fahrers kann natürlich trotz des Verstoßes des Fußgängers deutlich höher liegen, wenn er selbst – wie vorliegend – massiv gegen die StVO verstoßen hat. Ihre Höhe richtet sich nach dem Schweregrad seines Verschuldens (1/3 z.B. OLG Hamm, Urt. v. 10.04.2018 – 9 U 131/16, dazu Lang, jurisPR-VerkR 21/2018 Anm. 2; OLG Hamm, Urt. v. 06.04.2017 – 6 U 2/16; OLG Frankfurt, Urt. v. 04.03.2014 – 4 U 246/13; 1/2 z.B. OLG München, Urt. v. 05.05.2017 – 10 U 1750/15 – NJW-RR 2017, 1305; OLG Hamm, Beschl. v. 28.02.2018 – 11 U 108/17). Das OLG Düsseldorf hat am 10.04.2018 zutreffend sogar auf eine 2/3-Haftung des PKW-Fahrers entschieden, der bei Dunkelheit ungebremst einen Fußgänger erfasste, der, eine knallrote Jacke tragend, die sechs Meter breite Straße unvorsichtig überqueren wollte. In der Straßenmitte angekommen, blieb er stehen, um das mit 43-49 km/h kommende Auto vorbeizulassen. Der PKW-Fahrer erfasste ihn nicht zuletzt deswegen, weil er wegen der von innen beschlagenen Windschutzscheibe nur eine erheblich eingeschränkte Sicht hatte (OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.04.2018 – 1 U 196/14).
Im Zusammenhang mit der Haftungsfrage bei Fußgängerunfällen praxisrelevant ist die Aussage des OLG München vom 30.06.2017, das eine dunkle Bekleidung allein noch keine Mithaftung des Fußgängers begründet (OLG München, Urt. v. 30.06.2017 – 10 U 4244/16).
Nicht neu ist die Aussage des Oberlandesgerichts in dem Fall, wonach sich Kraftfahrer vom Grundsatz her auf die Einhaltung der Verkehrsregeln durch andere Teilnehmer, also auch der Fußgänger, verlassen können. Deswegen ist ein präventives Bremsen nicht schon beim bloßem Auftauchen eines Fußgängers erforderlich, sondern erst beim konkreten Hinweis, dass er die Straße queren möchte (OLG Hamm, Urt. v. 10.04.2018 – 9 U 131/16; OLG Hamm, Urt. v. 06.04.2017 – 6 U 2/16 – ZfSch 2017, 560; OLG Stuttgart, Urt. v. 04.04.2017 – 12 U 193/16). Erhöhte Sorgfaltspflichten gelten allerdings nach § 3 Abs. 2a StVO bei Kindern und erkennbar älteren bzw. hilfsbedürftigen Menschen. Das hat das Oberlandesgericht vorliegend bei dem knapp über 10-jährigen Mädchen zutreffend bejaht, das die Straße schon teilweise überquert hatte.
Wegen des Alters der Klägerin von knapp über zehn Jahren besteht ebenfalls ein Kontext des Urteils zu der obergerichtlichen Rechtsprechung zu der Frage, inwieweit die gerade zehn Jahre alten Kinder für ihr Verhalten im Verkehr haften (dazu Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2). Der Gesetzgeber hat 2002 auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern im sukzessive dynamischer werdenden motorisierten Straßenverkehr reagiert und die Grenze der Deliktsfähigkeit auf das 10. Lebensjahr erhöht (BGH, Urt. v. 17.04.2007 – VI ZR 109/06 – VersR 2007, 855; BGH, Urt. v. 16.10.2007 – VI ZR 42/07 – VersR 2007, 1669; BGH, Beschl. v. 11.03.2008 – VI ZR 75/07 – VersR 2008, 701; BGH, Urt. v. 30.06.2009 – VI ZR 310/08 – VersR 2009, 1136; Lang, NZV 2013, 161 und 214).
Der BGH hat sich mit der Thematik in jüngerer Zeit nur im Rahmen von zwei Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision befasst. Er weist kurz auf ältere Urteile hin, wonach das Verschulden von Kindern grundsätzlich niedriger zu bewerten ist als von Erwachsenen, so dass die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs nur bei erheblichem Verschulden des Kindes völlig zurücktreten kann (BGH, Beschl. v. 09.03.2010 – VI ZR 296/09 nach OLG Hamm, Urt. v. 13.07.2009 – 13 U 179/08 – NZV 2010, 464; BGH, Beschl. v. 30.05.2006 – VI ZR 184/05 nach OLG Nürnberg, Urt. v. 14.07.2005 – 13 U 901/05 – VersR 2006, 1513; vgl. auch BGH, Urt. v. 18.11.2003 – VI ZR 31/02 – VersR 2004, 392). Pointiert formuliert der VerfGH Berlin am 14.12.2009: „Je jünger das unfallbeteiligte Kind ist, umso eher ist sein verkehrswidriges Verhalten der Betriebsgefahr des Fahrzeugs zuzurechnen“ (VerfGH Berlin, Beschl. v. 14.12.2009 – 31/09 – NJW-RR 2010, 1141).
Ein Teil der Instanzgerichte bejaht eine volle Haftung von Kindern dieser Altersgruppe bei schweren Verkehrsverstößen, ohne dabei zum Teil auf die Erkenntnisse der Wissenschaft einzugehen, die den Gesetzgeber 2002 veranlasst haben, die Haftungsgrenze für Kinder im Straßenverkehr heraufzusetzen (z.B. OLG Hamm, Urt. v. 13.07.2009 – 13 U 179/08 – NZV 2010, 464; OLG Nürnberg, Urt. v. 14.07.2005 – 13 U 901/05 – VersR 2006, 1513; OLG Naumburg, Beschl. v. 09.01.2013 – 10 U 22/12 – NZV 2013, 244; KG Berlin, Beschl. v. 24.06.2010 – 12 U 178/09 – MDR 2011, 27; OLG Frankfurt/Main, Urt. v. 12.09.2007 – 14 U 149/07). Sie begründen das mit einer vom Gesetzgeber gewollten „starren“ Stichtagsregelung, zudem könne von Kindern des Alters die Kenntnis und Einhaltung der essentiellen Regeln des Straßenverkehrs erwartet werden.
Dem steht eine Reihe neuerer Entscheidungen gegenüber, die – wie hier auch das Oberlandesgericht – den immer noch vorhandenen kindlichen Defiziten Rechnung tragen, indem sie eine volle Haftung von gerade zehn Jahre alten Kindern nur in Ausnahmefällen annehmen (z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 09.03.2017 – 13 U 143/16, dazu Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2; OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.06.2012 – 13 U 42/12; OLG Saarbrücken, Urt. v. 24.04.2012 – 4 U 131/11; VerfGH Berlin, Beschl. v. 14.12.2009 – 31/09 – NJW-RR 2010, 1141; OLG Celle, Beschl. v. 08.06.2011 – 14 W 13/11, dazu Lang, jurisPR-VerkR 20/2011 Anm. 1; ebenso Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2; Dörr, MDR 2012, 503; Singer, Recht genau – Liber amicorum für Jürgen Prölss zum 70. Geburtstag, S. 191). Das ist aus meiner Sicht auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass sich ihre kindlichen Defizite, Entfernungen und Geschwindigkeiten im Straßenverkehr richtig einzuschätzen, nicht „per Knopfdruck“ mit dem Erreichen der Haftungsgrenze erledigen (Neuhaus, 51. Verkehrsgerichtstag Goslar 2013, S. 91 ff.), sachgerecht. Die Haftung von Kindern dieser Altersgruppe ist demnach umso geringer, je näher das Alter an der Haftungsgrenze des § 828 Abs. 2 BGB liegt (vgl. Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2; Lang, Sonderheft zum 75. Geburtstag von H. Lemcke, RuS 2011, 63).
Wie die differenzierenden Regelungen der §§ 828 Abs. 3, 276 BGB zeigen, sind auch bei der Frage der Haftung von Kindern der Altersgruppe die Umstände des Einzelfalls maßgeblich, so insbesondere der konkrete Entwicklungsstand des beteiligten Kindes. Ob die Betriebsgefahr des Fahrzeugs letztlich hinter dessen Verschulden zurücktritt, hängt somit von einer Vielzahl von Faktoren ab, so der Schwere des Verkehrsverstoßes und der individuellen Fähigkeit des Kindes, sich nach seinem Reifegrad verkehrsgerecht zu verhalten. Deswegen ist es richtig, dass das Oberlandesgericht hier den pauschalen Hinweis der Klägerseite auf in dem Alter noch generell vorhandene kindliche Defizite als unsubstantiiert zurückgewiesen hat. Wäre ein Bezug auf das betroffene Mädchen erfolgt, wäre der Senat wohl auch dem Beweisantrag gefolgt, ein Sachverständigengutachten zu der Einsichtsfähigkeit der Klägerin einzuholen. Diese Frage kann nur mit entwicklungspsychologischen Kenntnissen beantwortet werden, nicht also – wie leider gelegentlich zu beobachten – kraft eigener Sachkunde der Gerichte beurteilt werden (Huber, NZV 2013, 6; Lang, NZV 2013, 161 und 214).
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil ist ein weiterer Mosaikstein in der zuletzt umfangreichen Rechtsprechung zur Haftung bei Fußgängerunfällen im Straßenverkehr. Seine Besonderheit besteht darin, dass hier kein Erwachsener, sondern ein ca. zehn Jahre altes Mädchen verletzt wurde, so dass bei der Haftungsbeurteilung auch die Einsichtsfähigkeit des Kindes eine wesentliche Rolle spielte.
Fußgängerunfälle sind von ihrer Anzahl und den wegen der oft sehr schweren Verletzungen hohen Entschädigungsbeträge sehr wichtig für die Praxis (Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2). Die zentrale Frage der Haftungsbeurteilung ist angesichts unterschiedlicher Einzelkonstellationen komplex und wird immer wieder unterschätzt. Zu berücksichtigen ist dabei eine Vielzahl von verschiedenen Aspekten. So ist es zunächst wichtig, ob an dem Unfall ein Kraftfahrzeug beteiligt war, da nur dann dessen Betriebsgefahr ins Gewicht fällt. Ist das der Fall, ist eine volle Einstandspflicht des Fahrzeughalters (und dessen KH-Versicherers) selbst dann gegeben, wenn kein schuldhaftes Verhalten eines der Beteiligten erwiesen ist (zum Nachweis von Dashcam-Aufnahmen vgl. BGH, Urt. v. 15.05.2018 – VI ZR 233/17 – VersR 2018, 1076, dazu Nugel, jurisPR-VerkR 20/2018 Anm. 1). Geht es hingegen z.B. um einen Unfall des Fußgängers mit einem Fahrrad, würde der Radfahrer ohne eigenes schuldhaftes Verhalten nicht für die Unfallfolgen haften (Näher Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2).
Hat der Fußgänger (auch) gegen Verkehrsregeln verstoßen, sind die jeweiligen Beiträge der Unfallbeteiligten nach ihrem jeweiligen Schweregrad abzuwägen. Dabei spielt die Örtlichkeit des Unfalls, ob sich der Unfall also „auf freier Strecke“ oder z.B. an einer Ampel ereignet hat, eine ebenso wichtige Rolle wie z.B. die Geschwindigkeiten, der Straßenverlauf, die Lichtverhältnisse, die gegenseitige Wahrnehmungsmöglichkeit oder eine dunkle Kleidung des Fußgängers (näher Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2).
In der Praxis ist – wie hier vom Oberlandesgericht unterstrichen – das kindliche Alter des betroffenen Fußgängers zu berücksichtigen (Lang, jurisPR-VerkR 10/2017 Anm. 2). Das bringt der Gesetzgeber in § 3 Abs. 2a StVO zum Ausdruck, der erhöhte Sorgfaltspflichten des Kraftfahrers gegenüber erkennbar hilfsbedürftigen bzw. älteren Personen und Kindern regelt. Bei Kindern, die die Haftungsgrenze von zehn Jahren nach § 828 Abs. 2 BGB gerade überschritten haben, ist somit zu prüfen, ob und inwieweit sich die in dem Alter typischerweise noch vorhandenen kindlichen Verhaltensdefizite auf das Unfallgeschehen ausgewirkt haben. Da ihre Reife nur individuell beurteilt werden kann, gibt es dafür allerdings keine „richtige“ Haftungsquote.
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